Ich saß in einer (virtuellen) Veranstaltung mit anderen Selbstständigen. Jede hatte die Möglichkeit sich vorzustellen und zu erzählen, was sie macht und was ihre größte Stärke ist. Und dann kam der Satz: „Ich bin Lichtarbeiterin und meine größte Stärke ist energetisch den Raum zu halten“. Wow, das ist faszinierend, dachte ich mir. Dabei hatte ich nicht die geringste Ahnung, wovon diese Frau spricht. Das war meine erste Begegnung mit spirituellen Coaches, Schamanen und eben auch Lichtarbeitern. Und ich war schwer beeindruckt. Für mich war das ein Eintauchen in eine ganz andere Welt. Einerseits unglaublich spannend, andererseits war ich sehr achtsam.
So bin ich natürlich auch mit der „spirituellen Sprache“ in Berührung gekommen. Plötzlich wurde von Frequenzen, Schwingungen und Energien gesprochen. Ich hatte schon irgendwie eine Ahnung, eine Idee davon, worum es gerade ging. Ich hätte es aber nie konkret in 2-3 Sätzen auf den Punkt bringen können. Trotzdem habe ich es lange nicht hinterfragt. Irgendwann, als meine Social-Media-Kanäle von diesen spirituellen Worten geflutet wurden, habe ich diese Begriffe mal infrage gestellt. Was ist damit eigentlich genau gemeint? Was bedeutet das? Ich habe recherchiert, ob ich irgendwo aussagekräftige Erklärungen dazu finde, aber leider Fehlanzeige. Also, hab ich mich ein wenig intensiver mit spirituellen Worthülsen auseinandergesetzt. Was meine ich damit genau?
Definition spirituelle Worthülsen
Die Definition von „Worthülse“ ist laut duden.de: seines Inhalts, des eigentlichen Sinngehalts entleertes Wort.
Für mein Verständnis sind es genau diese Begriffe, bei denen man irgendwie zwar eine Idee davon hat, was es bedeuten könnte, aber mehr als eine leise Ahnung oder eine Idee ist es eben nicht. Wir können die Bedeutung des Wortes nicht auf den Punkt bringen. Die Bedeutung des Wortes ist nicht klar, es ist nicht mit Sinn gefüllt. Um es ein wenig anschaulicher zu machen, hab ich hier ein paar Beispiele für dich.
Beispiele für spirituelle Worthülsen
Den Raum halten
Wie kann ich mir konkret vorstellen, dass jemand einen Raum hält? Ich kann aufmerksam sein, ich kann die Gefühle meiner Klienten gut ertragen und aushalten, ich kann präsent sein, ich kann empathisch und mitfühlend sein, aber den Raum halten? Wie soll das gehen? Ich glaube, dass die Punkte, die ich jetzt aufgezählt habe, mit Raum halten gemeint sind. Aber warum wird das dann nicht einfach so benannt? Warum steht da nicht einfach, dass ich mit meiner ganzen Präsenz, Empathie und meinem Mitgefühl zur Verfügung stehe?
Higher Self
Was bedeutet das? Was ist dieses ominöse höhere Selbst? Ist das eine engelsgleiche Form von uns selbst? Ich schätze, dass mit dem Higher Self sowas wie unser innerster Wesenskern, unsere tiefste innere Stimme gemeint ist. Aber auch hier weiß ich es auch nicht wirklich. In dem Zusammenhang wird auch oft über unsere göttliche Anbindung gesprochen. Auch das ist sehr abstrakt und nicht wirklich greifbar.
Divine Goddess Energy
Also, das ist mein absoluter Favorit. Ich habe letztens noch die Steigerung, die „Golden Divine Goddess Energy“ gelesen. WOW. Ehrlich: ich hab keine Ahnung, was das sein soll, aber das muss Frau unbedingt haben, das hört sich einfach großartig an! Oder? Lass mich mal einen Moment überlegen. Vielleicht dann lieber doch nicht 😉
Meine Vermutung ist, dass diese ominöse Divine Goddess Energy sowas wie Anmut, Grazie und ein sehr gefestigtes Selbstwertgefühl, das von innen heraus strahlt, ist. Also, das denke ich zumindest, aber, es ist wie bei den anderen Beispielen – ich weiß es nicht.
Warum werden diese „Spiri-Worthülsen“ verwendet?
Hier kann ich nur Vermutungen anstellen. Die große Frage ist: Warum wird nicht einfach klar geschrieben, worum es geht, was gemeint ist? Das kann unterschiedliche Gründe haben und ist natürlich auch stark abhängig von der Person, die den Begriff verwendet.
Es könnte zum Beispiel sein, dass sie verwendet werden,
– weil sie sich einfach schicker anhört.
– weil für die Person, die die Begriffe benutzt, die Worte doch mit viel Bedeutung gefüllt sind. (die ich nur nicht sehen oder spüren kann?)
– da sie den Zusammenhalt innerhalb einer Branche stärkt.
– weil die idealen Kundinnen vielleicht genau wissen, dass sie die „golden divine goddess energy“ brauchen, und ich einfach noch zu niedrig schwinge, um das zu verstehen. (Sorry, den konnte ich mir nicht verkneifen ;-))
– da es vielleicht eine gute Ablenkung ist.
– um die Leserinnen zu verwirren.
– um ein Bedürfnis zu erzeugen.
– ein besonderes Maß an Leichtigkeit vermittelt werden möchte.
Das sind jetzt so spontan die Punkte, die mir eingefallen sind. Da gibt es vermutlich noch viele weitere.
Warum stört mich das?
Das kann ich schnell auf den Punkt bringen: Weil es nicht zu meinen eigenen Werten und meiner ethischen Vorstellung passt!
Als ich mich selbstständig gemacht habe, habe ich mir sehr genau überlegt, wie ich mein Angebot präsentieren und zeigen möchte. Ich wusste ja von vornherein, dass der Bereich, in dem ich tätig bin, zum einen mit vielen Vorurteilen behaftet ist und außerdem für viele sehr abstrakt ist. Ich bin ein psychologischer Coach und Heilpraktikerin für Psychotherapie, kein spiritueller Coach, aber mir ist bewusst, dass dieser Unterschied für Außenstehende nicht so offensichtlich ist, wie für mich.
Deshalb war und ist mir, neben anderen Werten, Transparenz und Offenheit in Bezug auf meine Arbeit sehr wichtig.
Ich versuche, die Dinge so gut es geht beim Namen zu nennen, und wenn das mal nicht so einfach ist, erkläre ich es. Mir ist es wichtig, dass meine (zukünftigen) Klientinnen und Teilnehmerinnen – bevor sie etwas bei mir kaufen – klar wissen, was sie bei mir bekommen, damit sie sich ganz bewusst dafür oder dagegen entscheiden können.
Wenn ich sehe, dass das auf vielen Ebenen ganz anders gehandhabt wird, dann finde ich das ziemlich schwierig.
Warum ich die „spirituellen Worthülsen“ sehr kritisch sehe
Es gibt zwei Hauptgründe, warum ich dem recht kritisch gegenüberstehe.
Manipulativ
Ich finde viele dieser Begriffe einfach sehr manipulativ. Es suggeriert gleich von Anfang an ein starkes „Das muss ich haben“-Gefühl, ohne dass die Interessierten wissen, was sie bekommen und worum es überhaupt geht. Und wenn der Fisch erstmal am Haken ist…
Da die spirituelle Branche sehr viel mit Achtsamkeit arbeitet, passt das für mich einfach überhaupt nicht zusammen, denn achtsam finde ich die spirituellen Worthülsen nicht.
Falsche Romantisierung
Also, der Weg zum Higher Self, die Transformation dorthin, wird immer wie ein romantischer Spaziergang im Sonnenuntergang beschrieben. Wunderschöne Farben, die Vogel zwitschern ihr Abendlied und ich gehe meinem Higher Self entgegen. Aber die Realität ist, dass die Arbeit an den eigenen Themen auch mal durch den Schlamm geht und oft nichts mit Romantik zu tun hat. Darüber wird nicht gesprochen, wer will sich schon durch den Schlamm kämpfen, aber ein bisschen mehr Realität fände ich toll!
Das an sich wäre aber noch nicht das große Problem. Schwierig wird es dann, wenn es bei dir nicht so funktioniert. Dann werden sich nämlich Gedanken wie „Warum klappt das bei mir nicht, wenn es doch so einfach ist? Warum geht es bei allen anderen so leicht, nur bei mir nicht? Was mache ich bloß falsch?“ melden. Dann geht es dir danach schlechter als vorher. Und das hat auf keinen Fall nur mit dir zu tun, sondern eben auch damit, wie es vorher dargestellt wurde.
Fazit
Ich habe überhaupt nichts gegen Spiritualität. Ganz im Gegenteil, ich finde es einen wunderbaren Aspekt des Lebens. Ich habe auch tatsächlich nichts gegen die Begriffe, die ich oben genannt habe. Wenn sie transparent und anschaulich verwendet werden. Wenn die potenziellen Kundinnen wissen, worauf sie sich einlassen, sind sie vollkommen okay.
Was ich nicht gut finde, ist, wenn mit hochtrabenden, salbungsvollen Wörtern umhergeschmissen werden, ohne dass diese mit Bedeutung und Inhalt gefüllt sind. Deshalb achte ich da mittlerweile sehr genau darauf, was gesagt wird, wie es gesagt wird, mit welchem Hintergrund es gesagt wird und wer es sagt.
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Liebe Rosina,
So ein wichtiger Artikel! Großartig, dass du dieses Thema ansprichst. Da stimmen wir komplett überein – auch ich kann salbungsvolle – und insbesondere salbungsvolle spirituelle Worthülsen absolut nicht leiden. Ich kann mich erinnern, dass ich im Studium einen Professor hatte, der immer gesagt hat: Überlegt mal, wie würdet ihr das z.B. eurer Großmutter oder einem 8-jährigen Kind erklären? Wenn es sich bei den Worthülsen dann auch noch um „Denglisch“ handelt – oh Graus!
LG – Uli
Liebe Uli,
vielen lieben Dank für deinen Kommentar. Ja, das mit dem „spreche und schreibe so, dass es ein 8 jähriger versteht“ kenne ich auch aus unterschiedlichen Texter-Kursen. Super zusätzlicher Impuls, an den Punkt hab ich gar nicht gedacht.
Liebe Grüße Rosina
Liebe Rosina,
toller Artikel. Ich kann mit diesen superlativen, leeren Worthülsen auch nichts anfangen. Bei so was frage ich mich auch, ob mir Luft angeboten wird. Das traurige ist, dass Leute, die eine andere Lösung für ihre Probleme suchen, weil sich schon verschiedenes probiert haben, dies vielleicht nicht so hinterfragen und dann Geld für etwas verschwenden, das es ihnen auch nicht löst. Und wie du sagst, sie sich hinterher vielleicht noch schlechter fühlen lässt.
Liebe Dorit,
Vielen lieben Dank für deinen Kommentar. Ja genau! deshalb finde ich es auch so wichtig zu hinterfragen und auch ganz aktiv nachzufragen. Liebe Grüße Rosina